Forschungsbericht 2024 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik
Gesagt oder Vorhergesagt? Wie unser Gehirn beides in Einklang bringt
Einleitung
Sprache steht im Zentrum dessen, was uns als Menschen ausmacht. Wir brauchen die Sprache, um Gedanken auszutauschen, Verbindungen zu knüpfen und die Welt zu verstehen. Wann immer wir ein Gespräch fūhren, eine Geschichte erzählen oder ein Buch lesen, verlassen wir uns auf diese erstaunliche Fähigkeit unseres Gehirns. Trotz der zentralen Rolle der Sprache in unserem Leben stellen die komplexen Mechanismen, die Sprachverarbeitung ermöglichen, nach wie vor eines der großen Rätsel in den Neurowissenschaften dar.
Wenn wir Sprache verstehen, leistet unser Gehirn Erstaunliches: Es geht über die Klänge und Wörter, die wir hören, weit hinaus. Indem es statistische Muster mit grammatischen Regeln verknüpft, erkennt es die Bedeutung des Gesagten. Wir untersuchen, wie Geist und Gehirn diese bemerkenswerte Leistung vollbringen. Genauer gesagt interessiert uns, wie linguistische Strukturen und statistische Regelmäßigkeiten im Gehirn repräsentiert sind und wie sie bei der Sprachverarbeitung zusammenwirken. Als interdisziplinäres Team entwickeln wir Theorien, die auf Prinzipien der Linguistik, Neurowissenschaften und kognitiven Informatik basieren.
Das Gleichgewicht zwischen Mustern und Regeln

Wenn wir Sprache verstehen, identifiziert unser Gehirn Wörter, bildet Sätze und schafft Bedeutung aus einem kontinuierlichen Strom von Vibrationen in der Luft: Sprache oder Gebärden. Es stützt sich dabei auf zwei wesentliche Informationsquellen: statistische Muster und strukturierte Regeln. Hört man beispielsweise den Satz: "Der Koch benutzt Salz und…", dann erwartet man eher das Wort "Pfeffer" als das Wort "Kurkuma", da Pfeffer häufiger mit Salz assoziiert wird. Gleichzeitig weiß das Gehirn, dass ein Wort wie "fröhlich", obwohl es oft vorkommt, hier nicht passt, weil es nicht der richtigen grammatischen Klasse angehört (Abb. 1).
Unsere Arbeitsgruppe „Language and Computation in Neural Systems” erforscht, wie das Gehirn solche statistischen Muster und grammatikalischen Regeln beim Sprachverstehen kombiniert. Wie schafft das Gehirn die Balance zwischen der Flexibilität im Erkennen von Wörtern und der Präzision in der Anwendung grammatischer Regeln? Wie laufen diese Prozesse in Echtzeit ab?
Die Rolle der Zeit
Bei der Sprachverarbeitung im Gehirn spielt die Zeit eine zentrale Rolle. Sie wirkt wie eine Dirigentin, die ein Orchester leitet und sicherstellt, dass jedes Instrument genau zur rechten Zeit spielt. Im Gehirn übernehmen rhythmische Aktivitätsmuster diese Rolle und synchronisieren die Verarbeitung von Wörtern und Klängen. Dr. Sanne ten Oever untersucht, wie diese neuronalen Rhythmen das Gehirn dabei unterstützen, erwartete und unerwartete Informationen zu verarbeiten. So verarbeitet das Gehirm etwa gut vorhersagbare Wörter wie “Pfeffer” nach “Salz” in „ruhigeren“ Momenten seiner Rhythmen und spart so Energie. Aber wenn etwas Überraschendes passiert, etwa wenn "Kurkuma" nach “Salz” gehört wird, dann schaltet das Gehirn in einen erregbaren, wachen Zustand um. Damit ist es bereit, das Unerwartete zu verarbeiten. Durch diese Flexibilität kann das Gehirn effizient arbeiten und Energie dann einsetzen, wenn sie am meisten gebraucht wird.

Abbildung zeigt, wie statistische Muster und grammatikalische Strukturen über
die Zeit dynamisch koordiniert werden. Diese rhythmische neuronale Aktivität kodiert
den Satzbau und verbindet statistische Hinweise mit strukturellen Regeln, um ein
präzises und flexibles Sprachverständnis zu ermöglichen.
Vorhersagbarkeit allein reicht zum Verstehen von Sprache nicht aus. Die Bedeutung sprachlicher Äußerungen ergibt sich auch aus der grammatischen Struktur. Dr. Cas Coopmans hat untersucht, wie das Gehirn diese Struktur in Echtzeit aufbaut. Während wir die aufeinander folgenden Wörter hören, organisiert die rhythmische Aktivität des Gehirns die einzelnen Laute, Wörter und Satzteile zu sinnvollen Sätzen. Seine Untersuchungen haben gezeigt, dass rhythmische Gehirnaktivität eine doppelte Rolle spielt: Sie hilft uns, Vorhersagen zu treffen, und sie sorgt dafür, dass Wörter zu kohärenten Sätzen zusammengefūgt werden (Abb. 2).
Das Zusammenspiel von Statistischen Regelmäßigkeiten und grammatischer Struktur
Dr. Sophie Slaats hat die Beziehung zwischen statistischen Regelmäßigkeiten und grammatischer Struktur eingehender untersucht. So hat sie gezeigt, dass Wörter leichter zu verarbeiten sind, wenn sie in einen strukturierten Satz eingebettet sind, als wenn sie einzeln gehört werden. So wirkt das Wort "Pfeffer" im Zusammenhang "Salz und Pfeffer" natūrlich, und wird leichter verstanden als wenn es allein erscheint. Ihre Forschung hat insbesondere deutlich gemacht, wie die Verarbeitung von statistischer Vorhersagbarkeit und Struktur beim Sprachverstehen Hand in Hand gehen, und gemeinsam bestimmen, wie Sprache verarbeitet und verstanden wird.
Dr. Hugo Weissbart hat einen Mechanismus entdeckt, der der Integration von statistischen Mustern mit grammatikalischen Strukturen im Gehirn zugrunde liegt: Rhythmische Aktivität auf verschiedenen Zeitskalen koordiniert Vorhersagen aus statistischen Mustern im Sprachsignal die angeben was vermutlich als nächstes kommt, mit syntaktischen Regeln, die den sinnvollen Zusammenhang des Gesagten sicherstellen. Durch dieses Wechselspiel kann das Gehirn sowohl flexibel sein und mit Überraschungen umgehen, als auch genau sein und die Satzbedeutung gewährleisten.
Sprache als Symphonie
Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Sprachverständnis einer meisterhaft orchestrierten Symphonie gleicht, die sich über die Zeit hinweg im Gehirn entfaltet. Statistische Muster fungieren als Harmonie, die unsere Vorhersagen leitet, während die Grammatik die Melodie liefert und dafür sorgt, dass alles zusammenpasst. Die neuronale Dynamik übernimmt die Rolle der Dirigentin, die diese Elemente synchronisiert und es dem Gehirn ermöglicht, sowohl vorhersehbare als auch überraschende Informationen mühelos zu verarbeiten.
Die Erforschung der Integration von grammatischer Struktur und statistischer Information im Gehirn hat Auswirkungen, die weit über die Sprache hinausgehen: Ein besseres Verständnis davon kann wesentlich dazu beitragen, Modelle des Lernens, der Wahrnehmung und der künstlichen Intelligenz zu verbessern. Die Sprache ist viel mehr als ein Kommunikationsmittel. Sie ist ein Fenster, durch das wir die Komplexität des Geistes und seine Fähigkeit zur Anpassung an das Unerwartete beobachten können.